Der Spielmann und das Kalb

Aus Sagenhaftes Ruhrgebiet

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Statue des Engelbert von Köln auf Schloss Burg

Das Erzbistum Köln stand am Anfang des 15. Jahrhunderts auf einem Höhepunkt seiner Macht. Nach Münster hatte es sich zur zweitgrößten Territorialmacht Westfalens entwickelt. Die Niederlage der erzbischöflichen Partei gegen den rheinisch-westfälischen Adel in der Schlacht von Worringen (bei Köln, im Jahre 1288 und der damit verbundene Herrschaftsverlust schienen überwunden zu sein. Zielstrebig versuchte der Erzbischof von Köln, Dietrich von Moers, die neuerworbene Vormachtstellung auch in der kurkölnischen Stadt Soest auszubauen. Der Rat von Soest hatte sich im Laufe der Zeit weitgehende Rechte und Privilegien gegenüber den Kirchenfürsten gesichert, die er nun nicht antasten lassen wollte. Als nun der Erzbischof eben diese Privilegien in Abrede stellte und sogar zusätzliche Steuererhöhungen durchsetzen wollte, kündigte der Rat der Stadt dem Kölner den Gehorsam auf und wählte im Jahre 1444 den Herzog Johann von Kleve-Mark zum neuen Schutzherrn. Erzbischöfliche Truppen belagerten daraufhin die Stadt: Die »Soester Fehde« begann. Nach dreijähriger erfolgloser Belagerung verpflichtete Dietrich von Moers zwölftausend meist thüringische und böhmische Söldner zum Sturme auf Soest. Auch dieser Angriff blieb ohne Erfolg. Als zudem die Verpflegung und der Sold ausblieben, zogen die Landsknechte ab, jedoch nicht ohne in weiten Gebieten Westfalens zu plündern und zu brandschatzen. 1449 konnte Soest seine Unabhängigkeit gegenüber dem Erzbischof beim Friedensschluss von Maastricht behaupten.

»Der Erzbischof von Köln war ein gar kluger, aber auch ein streitbarer Mann. Er war nicht nur Herr über die tausend Kirchen seines großen Bistums, er war zugleich der Landesherr großer Gebiete am Rhein und im Westfälischen, und so ruhten geistliche wie weltliche Macht gleichermaßen auf seinen starken Schultern. Da war eine alte, freie Stadt am Hellweg, die ehrenreiche, handelstüchtige Stadt Soest. Ihr Stadtrecht war weit und breit bekannt, nicht minder ihre schönen Kirchen und die prachtvollen Malereien darin. Auf diese Stadt also hatte es der Erzbischof von Köln abgesehen. Aber sie lehnte die freundliche Einladung, sich dem Kurfürstentum Köln anzuschließen, höflich lächelnd ab. Ihr einziger Herr sollte der Kaiser sein.

Den Erzbischof von Köln stimmte das nicht freundlicher. Also sammelte er ein buntes, wildes Söldnerheer und zog damit über den Hellweg vor die ehrenwerte feste Stadt Soest, um sie zum Gehorsam zu zwingen. Aber die Soester waren aus gutem Holz geschnitten und von westfälischer Zähigkeit, und mancher kurkölnischer Feldhauptmann lief sich beim Sturm auf die Stadtmauern Beulen an den Eisenhelm. (Soester Fehde, 1444-1449)

Mit den lärmenden Landsknechtshaufen zog mancher Spielmann die weiten Straßen von Köln bis Soest, riss seine Possen, sang seine Lieder, trieb seine Späße und hungerte sich schlecht und recht durch die wilden Kriegstage. Der Droste (Amtmann, D. S. zu Bochum und der Bürgermeister der Freiheit Wattenscheid hatten alle Hände voll zu tun, um ihr Land vor Diebsgesindel und Marodeuren zu schützen. An der Maarbrücke zwischen Bochum und Wattenscheid stand drohend ein Galgen, ein mächtig Dreibaumholz, und für die Galgenvögel war keine gute Zeit. Übersättigt saßen die Raben auf dem Holz und schrien heiser in den Tag hinein.

An einem bitterkalten Wintertag, so um Dreikönig des Jahres 1445, schlich ein zerlumpter Spielmann den Triftweg von Bochum her durch den fußhohen, knirschenden Schnee der Stadt Wattenscheid zu, just am Galgenplatz vorüber. Scheu wollte er sich vorbeidrücken; denn was er da sah, ging selbst einem mit allen Wassern gewaschenen Spielmann auf die Nerven. Da schlenkerten drei Rossdiebe ihre Beine durch den Abendwind.

Aber da fuhr der Teufel in ihn. Er spürte plötzlich seine frostroten Füße und die höllische Kälte in den zerfetzten Bundschuhen und sah zum Galgen hinauf. Der eine von den dreien da oben trug Stiefel, richtige, weiche langschäftige Stiefel aus Kalbsleder. Zum Henker, der da oben war tot, und es konnte ihm gleich sein, ob er mit oder ohne Stiefel vor das Gericht Gottes trat!

Weil dazu noch die Galgenleiter angelehnt dastand, glaubte unser Spielmann darin einen Finger Gottes zu sehen, stieg die Sprossen hinauf und machte sich mit stocksteifen Fingern daran, dem Burschen da oben die Stiefel von den Füßen zu ziehen. Das aber war leichter gedacht als getan, denn Stiefel und Beine waren vom Frost zusammengewachsen wie die Nase mit dem Gesicht. Ratlos stand er also da. Wieder ritt ihn der Teufel. »Gott sei meiner Seele gnädig und die Madonna helfe mir!«, betete der Spielmann, zog sein Sackmesser und schnitt dem Galgenvogel da oben die Beine weg, gerade über dem Knie und dem Stiefelband, stieg eilig die Leiter herab, barg die Beine mit den Stiefeln daran unter dem zerfetzten Mantel und stahl sich davon über die Heide nach Wattenscheid zu.

Da fiel ihm zur rechten Hand der alte Kabeisemannshof ins Auge, und weil da noch ein Licht blinkte, schlug er sich durch das gespenstische Weidengestrüpp von der Straße weg auf den Hof zu. Er klopfte, bat um Herberg für die Nacht und legte sich auf eine Schütte Stroh im Kuhstall zur Nachtruhe nieder. Die Stiefel mit den Beinen darin stellte er neben sich und dachte bei sich, dass die wohlige Wärme das alles auf tauen würde. Er hörte noch eine Weile zu, wie der Nachtwind um die Ecken pfiff, und dann schlief er ein.

Nun aber wollte es der Zufall, dass gerade in dieser Nacht die Blesskuh kalbte. Das Kälblein kroch mühsam ein Stücklein näher an den Schlafenden heran. Die Kuh begann zu brummen und unruhig zu werden, und, von dem Geräusch und vom Schnaufen des Kälbleins aufgeweckt, fuhr der Spielmann hoch, tastete um sich, fühlte das feine, feuchte Fell des jungen Tieres, und in der Verwirrung dachte er: »Da ist der Gehenkte vom Galgenholz herabgestiegen , um seine Beine wiederzuholen.«  Weil aber damals die Luft voll war von Geister- und Gespenstergeschichten, glaubte er das, schlug ein Kreuz, sprang durch das Fenster auf den Hof hinaus und lief, als säße ihm der Teufel im Nacken, quer über die Heide der Stadt zu. Die Stiefel ließ er zurück, und die standen nun friedlich auf der Strohschütte, als wären sie die traurigen sterblichen Reste unseres Spielmanns.

Weil aber das Gebrumme der Kuh immer stärker wurde und das Vieh unruhig mit den Halfterketten rasselte, wurde die Viehmagd in der Bodenkammer wach. Sie zündete das Windlicht an, stieg die Bodentreppe hinab und schlurfte über die Deele zum Kuhstall hinein. Ein warmer Dunst schlug ihr entgegen. Sie hob das Licht, um besser sehen zu können, sah die Kuh und das junge Kälbchen, das nun auf dem Strohschütt lag, und die Stiefel mit den Beinen darin. Da schrie sie gellend auf, ließ die Laterne fallen, dass sie erlosch, warf die Holzschuhe von den Füßen, raffte die Röcke zusammen und sprang zur Deele hinaus: »Kabeisemann, Kabeisemann...!« 

Der stand auch sofort da, die Windlaterne in der Hand, sah die entsetzte Magd, die immerfort Kreuze schlug und totenblass vor Entsetzen dastand und ganz verstört vor sich hinflüsterte: »Das Kalb ist verhext; es hat den Spielmann gefressen. Nur seine Beine, nur seine Beine stehen noch da ...! Schlagt es tot, schlagt es tot!«  Der alte Kabeisemannbauer – er war sonst ein tapferer Mann – lugte in den Stall hinein, und da begannen ihm die Knie zu zittern; der Schweiß trat ihm auf die Stirn und langsam schlug er ein großes Kreuz: »Gott sei seiner Seele gnädig!«  Die krächzenden Raben auf dem Maarbrücker Galgenholz lärmten in dieser Nacht sehr aufgeregt und erbost und wollten wissen, wer ihnen ihr Recht auf ein Paar Beine streitig machen wollte ...! Denn das gehörte nach ungeschriebenen Gesetzen doch allen ihnen allein ...!« 

Anmerkungen

In Hamme, wo An der Maarbrücke in die Gahlensche Straße mündet, lag die über den Marbach führende Brücke. Marbach hieß wohl ursprünglich Markbach und bedeutet Grenzbach. Der kanalisierte Bach leitet heute Abwässer ab. In dem Marbach wurden vormals auch die Kindermörderinnen ertränkt. Am Kabeisemannsweg in Hordel haben Ackerflächen des gleichnamigen Hofes gelegen. Der noch heute bewirtschaftete Hof-Kabeisemann, wohl eine der ältesten Siedlungen zwischen Ruhr und Emscher, heute Gut Goldhamme genannt, liegt an der Hansastraße 150. 1379 erfolgte die erste urkundliche Erwähnung. Gegenwärtig besitzt der VEBA-Konzern den Hof. Das sehenswerte historische Anwesen sollte ursprünglich in den nächsten Jahren abgerissen werden, um einem Gewerbepark zu weichen. Dank der Bemühung des 2.Vorsitzenden der Kortum-Gesellschaft Bochum e.V. Dr. Hans H. Hanke wurde das Hofgebäude unter Denkmalschutz gestellt und bleibt der Nachwelt erhalten.

Bei Grasreiner legt Hüls den Ort der Handlung auf den Helfs-Hof. Den Galgen, von dem der Knecht die Füße abschnitt, lokalisiert Hüls als Gerichtslinde am Helfs-Hof. Die Geschichte spielt zur Zeit des 30-jährigen Krieges. 30 Jahre später siedelt Hüls den Bericht merkwürdiger Weise zur Zeit der Soester Fhede (1444-1449) an. Ort der Handlung ist nun der Kabeisemannshof und der Galgen stand am Maarbach. Abgedruckt ist ausnahmsweise der jüngere Text, da die ältere Textfassung starke „Längen“ hat und m.A. kaum lesbar ist. Nach Leiermann, 1936, 168 sind diese Aufzeichnungen »nicht in Volk entstanden. Es sind Erdichtungen der Verfasser.« 

Hof Kabeisemann (Hof Goldhamme) (WGS 84: 51.483583° 7.174917°)

Literaturnachweis

  • Hüls, 1955, 210f;
  • Grasreiner, 1925, 73-79 (W. Hüls, Lehrer, Sevinghausen);
  • zum Hof Kabeisemann vgl. Rupprecht; vgl. BS, 12-14.


Hier finden Sie: Hof Kabeisemann (51.483583° Breite, 7.174917° Länge)

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Dieser Text wurde folgendem Buch von Dirk Sondermann entnommen:

Wattenscheider Sagenbuch.
Essen: Verlag Pomp, 2004
ISBN 3-89355-248-0.



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